* 39 *

Noch in derselben Nacht entwischte der Lehrling durch die Katzenklappe.
Berta, die noch alle Instinkte einer Katze besaß, unternahm in der Nacht gerne Streifzüge, und so verschloss Tante Zelda die Tür stets mit einem Einwegzauber. So konnte Berta hinaus, aber niemand hinein. Auch Berta nicht. Tante Zelda war vor herumstrolchenden Braunlingen und Marschgespenstern auf der Hut.
Als nun alle bis auf den Lehrling eingeschlafen waren und Berta zu ihrem nächtlichen Ausflug aufbrach, kam der Lehrling auf die Idee, ihr zu folgen. Die Klappe war sehr eng, doch der Lehrling, der dünn wie eine Schlange und doppelt so wendig war, zwängte sich durch den schmalen Durchschlupf und hob dabei mit der schwarzen Magie, die in seinen Kleidern hing, Tante Zeldas Einwegzauber auf. Bald streckte er aufgeregt den Kopf in die kalte Nachtluft.
Berta empfing ihn mit einem scharfen Schnabelhieb auf die Nase, doch davon ließ er sich nicht abschrecken. Seine Angst davor, in der Klappe stecken zu bleiben, mit den Füßen drinnen und dem Kopf draußen, war größer als seine Angst vor Berta. Sein Gefühl sagte ihm, dass es niemand sonderlich eilig haben würde, ihn herauszuziehen, falls er stecken blieb. Daher beachtete er die rabiate Ente nicht und stemmte sich mit aller Kraft ins Freie.
Er lief schnurstracks zum Landungssteg, und Berta setzte ihm nach. Wieder versuchte sie, ihn am Kragen zu packen, doch diesmal war er darauf gefasst. Er schlug nach ihr. Sie stürzte zu Boden und quetschte sich einen Flügel.
Der Magog lag schlafend im Kanu und verdaute die sechsundfünfzig Panzerkäfer. Der Lehrling stieg vorsichtig über ihn hinweg. Zu seiner Erleichterung rührte sich die Kreatur nicht – Magogs nahmen ihre Verdauung sehr ernst. Vom Geruch des Magogschleims musste der Lehrling würgen, doch er ergriff das von Schleim triefende Paddel, und bald war er draußen auf dem Mott und paddelte dem Labyrinth von Kanälen entgegen, die sich durch die Marram-Marschen schlängelten und ihn zum Deppen Ditch bringen würden.
Kaum hatte er die Hütte hinter sich gelassen, wurde ihm in der mondhellen Weite der Marschen mulmig zu Mute. Da der Magog schlief, fühlte er sich schrecklich schutzlos und musste an all die Schauergeschichten denken, die er über die Marschen gehört hatte. Er paddelte so leise wie möglich, um nur ja niemanden zu stören, der nicht gestört werden wollte, oder gar jemanden, der nur darauf wartete, dass er gestört wurde. Um sich herum hörte er die nächtlichen Geräusche der Marschen. Er vernahm das gedämpfte unterirdische Kreischen einer Horde Braunlinge, die eine unvorsichtige Marschkatze in den Wabberschlamm hinunterzog. Und dann ein widerliches Scharren und Glucksen, als zwei große Wassernixen versuchten, sich mit ihren Saugnäpfen an der Unterseite des Kanus festzuhalten und durch den Boden zu nagen. Sie rutschten jedoch am Magogschleim ab.
Kaum waren die Wassernixen fort, erschien ein Marschgespenst. Es war nur ein kleiner weißer Nebelschleier, doch es strömte einen modrigen Geruch aus, der den Lehrling an den Hügel in DomDaniels Versteck erinnerte. Das Gespenst hockte sich hinter ihn und stimmte einen eintönigen Singsang an. Es war das traurigste und unerträglichste Lied, das der Lehrling je gehört hatte. Die Melodie schwirrte und schwirrte ihm im Kopf herum – »Weerrghh-derr-waaah-duuuuuuuu ... Weerrghh-derr-waaah-duuuuuuuu ...«, bis er glaubte, verrückt zu werden.
Er schlug mit dem Paddel nach dem Gespenst, doch das Holz drang durch den heulenden Nebelfetzen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Das Kanu geriet ins Schaukeln, und um ein Haar wäre der Lehrling in das dunkle Wasser gefallen. Dann setzte die grässliche Melodie wieder ein, ein wenig spöttisch, denn das Gespenst war sich der Aufmerksamkeit des Lehrlings jetzt gewiss: »Weerrghh-derr-waaah-duuuuuuuu ... Weerrghh-derr-waaah-duuuuuuuu ... Weerrghh-derr-waaah-duuuuuuuu ...«
»Aufhören!«, brüllte der Lehrling, der das Gejaule nicht mehr ertragen konnte. Er hielt sich die Ohren zu und begann mit lauter Stimme zu singen, um die Gespenstermelodie zu übertönen.
»Ich höre nicht zu, ich höre nicht zu, ich höre nicht zu«, grölte er aus vollem Hals. Unterdessen wirbelte das Gespenst triumphierend im Kanu herum. Gewöhnlich brauchte es viel länger, um einen jungen Kerl in ein Nervenbündel zu verwandeln, aber heute Nacht hatte es einen Glückstreffer gelandet. Die Mission war erfüllt, und so dehnte sich das Marschgespenst zu einem flachen Nebelstreifen und schwebte zufrieden von dannen, um den Rest der Nacht über seinem Lieblingssumpf zu hängen.
Der Lehrling paddelte verbissen weiter, ohne sich weiter um Marschheuler, Schreckgespenster und einige sehr verführerische Marschfeuer zu kümmern, die stundenlang um sein Kanu herumtanzten. Mittlerweile war es ihm gleichgültig, was die Marschenbewohner taten, Hauptsache, sie sangen nicht.
Als die Sonne über den Marram-Marschen aufging, erkannte der Lehrling, dass er sich hoffnungslos verirrt hatte. Er befand sich mitten in einer weiten eintönigen Landschaft, die für ihn überall gleich aussah. Er paddelte müde weiter, ratlos, was er tun sollte, und erst gegen Mittag gelangte er an einen breiten und schnurgeraden Wasserlauf, der so aussah, als führe er tatsächlich irgendwohin, statt wie viele andere in einem sumpfigen Morast zu versickern. Und so bog der Lehrling, ohne es zu wissen, in den oberen Abschnitt des Deppen Ditch ein und fuhr erschöpft dem Fluss entgegen. Der Anblick der riesigen Marschpython, die auf dem Grund des Kanals lag und sich zu strecken versuchte, vermochte ihn kaum zu erschrecken. Dazu war er viel zu müde. Außerdem wollte er es jetzt wissen. Er hatte eine Verabredung mit DomDaniel, und diesmal wollte er die Sache nicht vermasseln. Dem Königsbalg würde es noch Leid tun. Ihnen allen würde es noch Leid tun. Besonders der Ente.
Am Morgen konnte niemand in der Hütte glauben, dass es dem Lehrling tatsächlich gelungen war, sich durch die Katzenklappe zu zwängen.
»Ich hätte nie gedacht, dass sein Kopf da durchpasst«, spöttelte Jenna.
Nicko ging hinaus, um die Insel nach ihm abzusuchen, kehrte aber schon nach kurzer Zeit zurück. »Das Kanu des Jägers ist fort, und das war ein schnelles Boot. Er dürfte inzwischen ziemlich weit sein.«
»Wir müssen ihn aufhalten«, sagte Junge 412, der nur zu gut wusste, wie gefährlich ihnen der Lehrling werden konnte. »Sonst verrät er bei der erstbesten Gelegenheit, wo wir sind.«
So stiegen Jenna, Nicko und Junge 412 in die Muriel zwei und nahmen die Verfolgung des Lehrlings auf. Und als die Wintersonne über den Marram-Marschen aufging und lange Schatten über die Sümpfe warf, trug die Muriel zwei sie träge durch das Gewirr der Kanäle. Sie kamen nur langsam voran, viel zu langsam für Nickos Geschmack, der wusste, wie schnell das schnittige Kanu des Jägers dieselbe Strecke zurückgelegt haben musste. Unablässig hielt er nach dem Kanu Ausschau, halb in der Erwartung, es gekentert in einem Wabbermorast der Braunlinge oder leer in einem Kanal treibend zu entdecken, doch zu seiner Enttäuschung sah er nichts außer einem langen schwarzen Baumstamm, der ihm vorübergehend Hoffnung machte.
Neben dem Marschgespenstersumpf legten sie eine kurze Rast ein und aßen belegte Brote mit Ziegenkäse und Sardinen. Die Gespenster ließen sie in Frieden. Sie waren längst fort und hatten sich in der Wärme der aufgehenden Sonne verflüchtigt.
Es war früher Nachmittag, und Nieselregen hatte eingesetzt, als sie endlich in den Deppen Ditch einbogen. Die Sumpfpython döste im Schlamm, nur halb von Wasser bedeckt, denn die Flut hatte eben erst eingesetzt. Zur großen Erleichterung der Besatzung schenkte sie der Muriel zwei keine Beachtung. Sie wartete auf die frischen Fische, die ihr die Flut bringen würde. Das Wasser war noch sehr niedrig, und das Kanu glitt weit unter den Ufern dahin, die zu beiden Seiten steil aufragten. So kam es, dass Jenna, Nicko und Junge 412 erst hinter der letzten Biegung des Deppen Ditch sahen, was sie erwartete.
Die Vergeltung.